Sozialdemokratische Landagitation: Der Kampf um den ländlichen Raum

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Die Wiener Landwirtschaftliche Zeitung begann am 22. August 1891 in ihrem Leitartikel über “die Socialdemokratie [sic] und die Landwirtschaft” mit folgender Feststellung:

“Noch vor wenigen Jahren hätte wohl Jedermann geglaubt, daß der Zeitpunkt, in welchem die Socialdemokratie und die Landwirtschaft zu einander in engere Beziehungen gebracht werden könnten, ein sehr ferner sei. Heute ist er bereits da!” [1]

Damit gemeint war die groß-angelegte Landagitation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die zu Beginn des Jahres 1891 für große Aufmerksamkeit sorgte, sollten doch die sozialistischen Ideen “auf die Dörfer” hinausgetragen werden. Der im Oktober 1890 in Halle abgehaltene Parteitag hatte dazu die Parole “Hinaus aus Land!” ausgegeben.

Der Verfasser des Leitartikels räumte den Bemühungen der Sozialdemokratie auf dem Lande allerdings nur geringe Chancen ein:

“Denn es ist mit Recht bemerkt worden, daß es nicht so ganz leicht sein wird die Masse der landw. Arbeiter unter die Botmäßigkeit der im Grunde aus dem industriellen Proletariate hervorgegangenen Führer der Socialdemokratie zu bringen […].” [2]

Die ersten größeren Agitationsversuche in Deutschland blieben auch bei der österreichischen Genoss:innen nicht unbemerkt, allerdings wurde hier erst mit einiger Verzögerung darauf reagiert. So fand etwa die Landagitation in den Anfangsjahren nur geringe Beachtung – erst 1900 wurden am Parteitag in Graz erste Grundsätze verabschiedet. [3]

Dort diskutierte man vor allem die Frage, wie Landarbeiter organisiert werden könnten. Berichterstatter Wilhelm Ellenbogen hielt dazu fest, dass bisherige Versuche in England scheiterten, lediglich in Italien und Ungarn konnten erste bescheidene Organisationsstrukturen aufgebaut werden. Es erschien daher ratsam, die Landagitation auf andere Zielgruppen auszuweiten:

“Aus alledem ergibt sich, daß ein Erfolg nur dort erzielt wurde, wo sich die Partei nicht allein auf den Landarbeiter beschränkt hat, sondern die Agitation auch auf die kleinen Bauern, Häusler, ganz kleine Besitzer ausdehnte. […] Es sind fünfeinhalb Millionen Menschen, um die es sich hier handelt, die wir nicht rechts liegen lassen können, und wo genug Elend, genug Trübsal vorhanden ist, dessen sich die Sozialdemokratie annehmen muß.” [4]

Schlussendlich wurde eine Resolution verabschiedet, welche die ersten Grundsätze der sozialdemokratischen Landagitation beinhaltete. Wichtige Eckpunkte waren dabei “praktische landwirtschaftliche Reformen”, wie etwa der Ausbau des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens oder eine staatliche Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung für Landarbeiter. Darüber hinaus wurde beschrieben, was eine sozialdemokratische Landagitation zu leisten im Stande sein musste:

“Sie muß ferner vor allem die Beseitigung all der geistigen und politischen Schutzwehren des ländlichen Konservatismus anstreben, also die Erweiterung der Schulbildung, die Uebernahme der Schullasten durch den Staat, die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes und die Aufklärung der Landbevölkerung durch Zeitungen, Broschüren, landwirtschaftliche Kalender und dergleichen energisch betreiben […]. Da die kleinen Landgemeinden vorzügliche Ausgangspunkte für die Landagitation sind, soll der provinziellen Kommunalpolitik ein sorgsames Augenmerk zugewendet werden.” [5]

Demnach war die Landagitation zunächst eine organisatorische Frage, die je nach Möglichkeit unterschiedlich gelöst wurde. So beschloss etwa der Verbandstag der Taschner, Sattler und Riemer Österreichs, die Landagitation durch reisende Kollegen mit Werbematerial durchzuführen. Darüber hinaus fand jährlich eine große Agitationstour statt, welche von der Zentrale aus organisiert wurde. Ansonsten wurden Agitationen von der jeweiligen Landeshauptstadt oder einer nahen Industriestadt aus betrieben. [6]

“Lügen und Unsittlichkeit”: Der Widerstand wächst

Die Bestrebungen der Sozialdemokratie im ländlichen Raum stießen freilich auf erbitternden Widerstand – der Begriff der “roten Hetzer” machte die Runde. Hermann Köhler veröffentliche 1903 etwa die Streitschrift Landwirtschaft und Sozialdemokratie in sittlicher Beleuchtung. Ein Beitrag zur Abwehr sozialdemokratischer Landagitation.

Dabei ereigneten sich immer wieder kuriose Fälle, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Vier Sozialdemokraten wollten in Stiwoll (westlich von Graz) eine Wählerversammlung abhalten und staunten nicht schlecht, als sie vor dem gut besuchten Gasthaus ankamen. An der Tür befand sich eine Art amtlicher Anschlag, der die Versammlung aufgrund “der im Ort grassierenden Scharlachepidemie” verbot. Die Genoss:innen hielten sich pflichtbewusst an die Anweisung und setzten sich lediglich als Gäste in die überfüllte Gaststube und diskutierten anschließend mit den anwesenden Bauern über die “Leidensgeschichte des gegenwärtigen Volkes”. [7]

Im Laufe der Zeit entwickelten sich immer weitere organisatorische Anknüpfungspunkte, um die Landbevölkerung für die Sozialdemokratie gewinnen zu können – wie etwa in Salzburg. Dort wurde das Land in den frühen 1890er Jahren in fünf Organisationsbezirke eingeteilt, die jeweils Arbeiterbildungsvereine in ihrer Mitte hatten. Neben der Landeshauptstadt waren dies Thalgau, Hallein, Bischofshofen und Saalfelden. Noch vor der Jahrhundertwende konnten die Parteistrukturen weiter gefestigt und auf sechs Bezirksorganisationen erweitert werden. [8]

Als wichtiger Katalysator fungierte dabei die Salzburger Bergbauindustrie, wie Josef Kaut in seinem Buch “Der steinige Weg” beschrieb:

“Überall dort, wo eine größere Anzahl von Arbeitern durch Industrie oder Bergbau lebte, sind die Organisationen früher entstanden, als in den anderen Orten. Zentren der Entwicklung waren Lend, ferner Badgastein, wo der Goldbergbau noch bestand, Mühlbach und Dienten, wo die Bergarbeiter des Kupferbergbaues sich konzentrierten. […] In Lend bestand eine alte Goldwäscherei und Schmelzhütte, die erst 1862 aufgelöst und in deren Anlagen 1887 eine Asbestfabrik errichtet wurde, die auf dem Asbestvorkommen in den Tauern basierte.” [9]

Feindseligkeiten gab es aber auch hier zur Genüge. Als etwa im Jahr 1909 eine sozialdemokratische Versammlung in Werfen abgehalten wurde, kam es zu einer wilden Schlägerei, als Landwirte “mit geschwungenen Bierkrügen” die Veranstaltung zu sprengen versuchten.

Die Kleinbauern formieren sich

Ein Meilenstein für die weitere Landagitation ereignete sich am 17. März 1923 in Wien: Innerhalb des österreichischen Land- und Forstarbeiterverbandes wurde eine eigene Sektion der Kleinbauern, Weinbautreibenden und Kleinpächter” gegründet – mit dem Weinhauer Alois Mentasti aus Sooß bei Baden an ihrer Spitze. Die neue Vereinigung hatte es sich zum Ziel erklärt, gegen “Bedrückung und Landarmut” vorgehen zu wollen.

“Mehr denn je gilt es der Frage der Erweckung des Landvolkes näher zu treten, wenn auch manchen in unseren Reihen die nötige Spannkraft fehlt, welche glauben, daß die Landagitation eine zu langwierige, unscheinbare sei. Solche Gedanken müssen und werden durch die Tat der Gegenwartskunde eines Besseren belehrt […].” [10]


Pioniere der Sozialdemokratie am Land: Alois Mentasti // Jakob Viehauser // Franz Brutar


Am 6. September 1923 veröffentlichte der sozialdemokratische Parteivorstand zur bevorstehenden Nationalratswahl am 21. Oktober wichtige Verhaltensregeln für die eigenen Funktionär:innen. Nachdem die sozialdemokratische Landagitation in der Vergangenheit immer wieder vom politischen Mitbewerber gestört oder gar verhindert wurde, kam es nun im Wahlkampf zu einer Abmachung mit der Christlichsozialen Partei. Dabei wurde vereinbart, gegnerische Versammlungen nicht weiter zu stören, fremde Plakate nicht herunterzureißen und die Verteilung von Flugblättern nicht zu verhindern. Darüber hinaus sollten derartige Zwischenfälle unverzüglich dem Parteivorstand zur Kenntnis gebracht werden. [11]

Die Arbeiterpresse (Der Sozialdemokrat, April 1928)

Unter dem Motto “Rüstzeug zum Wahlkampf gegen die Sozialdemokratie” erfreute sich Heinrich Ardningers Broschüre über “Sozialdemokratie und Landwirtschaft” aus dem Jahr 1919 wieder großer Beliebtheit. Jeder Landwirt sollte das Büchlein seinen Dienstboten zum Lesen geben und dafür sorgen, dass es auch unter den Kleinbauern verbreitet wird. Das in rot gehaltene Buchcover zeigte einen grimmig dreinblickenden Sozialdemokaten, der mit wehender Fahne und einer brennenden Fackel in den Händen ein friedliches Bauernhaus in Brand setzt. [12]

Text: Alexander Neunherz, veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-SA 4.0;
Titelfoto: Huber, Ernst (1927). Landagitation, in: Kunst und Volk. Mitteilungen des Vereines "Sozialdemokratische Kunststelle", April 1927, Seite 7.
[1] Wiener Landwirtschaftliche Zeitung (1891). Die Socialdemokratie [sic] und die Landwirtschaft, 22. August 1891, Seite 1 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[2] ebda.
[3] Vgl. Gisinger, Arno (1989). Agitation ohne Programm. Die sozialdemokratische Agrarpolitik vor 1918, in: Greussing, Kurt (Hg.): Die Roten am Land. Heimat:Dorf. Lebensbilder - Zukunftsräume, Museum Industrielle Arbeitswelt Steyr, Seite 5.
[4] Arbeiter-Zeitung (1900). Der Parteitag in Graz. Landagitation, 5. September 1900, Seite 4 ((ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[5] ebda.
[6] Arbeiter-Zeitung (1907). Sozialpolitik. Der Verbandstag der Taschner, Sattler und Riemer Oesterreichs, 23. Mai 1907, Seite 8 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[7] Arbeiterwille (1911). Landagitation, 31. Mai 1911, Seite 5 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[8] Vgl. Kaut, Josef (1982). Der steinige Weg. Geschichte der sozialistischen Bewegung im Lande Salzburg, Salzburg, Graphia Druck- und Verlagsanstalt, S. 41ff.
[9] ebda, Seite 37f. 
[10] Salzburger Wacht (1923). Der Sozialismus im Vormarsch, 31. März 1923, Seite 10 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[11] Arbeiter-Zeitung (1923). Genossen und Genossinnen, 6. September 1923, Seite 3 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
[12] Vgl. Landheimat (1923). Gute Bücher ins Bauernhaus, 6. Oktober 1923, Seite 11 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).